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Ansprache vom 16. Januar 1946

In den verflossenen Jahren, geliebte Söhne und Töchter, waren Wir gewohnt, nach der väterlichen Entgegennahme der Wünsche, die Euer erlauchter Sprecher bei dem gegenwärtig wiederkehrenden Anlaß in Eurem Namen mit so tiefem Gefühl und so edlen Bekundungen des Glaubens und der kind­lichen Ergebenheit Uns darzubringen pflegt, Unserem Dank einige Empfehlungen hinzuzufü­gen, die jeweils durch die Umstände des Augen­blicks nahegelegt wurden. So sprachen Wir denn von Euren Pflichten und von Eurer Aufgabe in der modernen, furchtbar gequälten und gefährdeten, wankenden Gesellschaft; doch notwendigerweise in einer etwas allgemeinen Art angesichts einer Zukunft, deren Gang und Gesicht noch äußerst schwer mit Genauigkeit vorauszusehen war.

Die Ungewißheit hält an und der Horizont bleibt mit Sturmwolken verhängt.

‘Die Ungewißheit hält an und der Horizont bleibt mit Sturmwolken verhängt.’

Ohne Zweifel ist sie auch heute noch dunkel. Die Ungewißheit hält an und der Horizont bleibt mit Sturmwolken verhängt. Nachdem der Kampf der Waffen kaum aufgehört hat, befinden sich die Völker vor einem Unternehmen, das höchst verant­wortungsvoll ist wegen der Folgen, die auf dem Lauf der Zeiten lasten und seine Kurven bestimmen werden. Es handelt sich nicht nur für Italien, sondern auch für viele andere Nationen darum, ihre politischen und sozialen Grundgesetze auszuarbei­ten – sei es, ein ganz neues zu schaffen, sei es, die geltenden zu überholen, zu ändern, mehr oder weniger tiefgreifend umzugestalten. Was das Problem noch erschwert, ist der Umstand, daß alle diese Grundgesetze ein genau so verschiedenes und selbständiges Dasein fristen werden, wie die Nationen, die sie sich selbst frei geben wollen, selbständig und frei sind. Dadurch werden sie – de facto, wenn nicht de iure – nicht weniger gegenseitig voneinander abhängig sein. Es handelt sich also um ein Ereignis von höchster Bedeutung, wie es sich selten in der Weltgeschichte gleich schwerwiegend eingestellt hat.

Darin liegt etwas beschlossen, das selbst die Kühnsten in Furcht und Zittern versetzen kann, wenn sie sich auch nur im geringsten ihrer Verant­wortung bewußt sind; etwas, das die Hellsichtig­sten verwirren kann, und zwar gerade deshalb, weil sie besser und weitersehen als die anderen und, von der Schwere der übernommenen Aufgabe über­zeugt, klarer erkennen, wie notwendig es ist, sich in der Stille und in der Sammlung der reiflichen Erwägungen hinzugeben, die Arbeiten von solcher Tragweite fordern. Und siehe da! Im Gegenteil scheint das große Ereignis unter dem kollektiven und gegenseitigen Druck schon bevorzustehen. Binnen kurzem wird man sich ihm stellen müssen. Es werden vielleicht in wenigen Monaten die Lö­sungen gefunden und die endgültigen Entschei­dungen festgelegt werden müssen, die sich nicht nur auf das Schicksal eines einzigen Volkes, sondern der ganzen Welt auswirken und die, einmal gefaßt, vielleicht für lange Zeit den Allgemeinzu­stand der Völker bestimmen werden.

andererseits das Volk, dem es zusteht, seinen Willen durch seine Meinungsäußerung und durch sein Wahlrecht zur Geltung zu bringen. Auch Ihr, ob Ihr zur kommen¬den verfassunggebenden Versammlung gehören könnt oder nicht, habt also Eure Aufgabe zu erfül¬len, die sich zu gleicher Zeit auf die Gesetzgeber und auf das Volk erstreckt. Welches ist Eure Aufgabe?

andererseits das Volk, dem es zusteht, seinen Willen durch seine Meinungsäußerung und durch sein Wahlrecht zur Geltung zu bringen. Auch Ihr, ob Ihr zur kommenden verfassunggebenden Versammlung gehören könnt oder nicht, habt also Eure Aufgabe zu erfüllen, die sich zu gleicher Zeit auf die Gesetzgeber und auf das Volk erstreckt. Welches ist Eure Aufgabe?

Zum Gelingen dieses Unternehmens müssen in unserem Zeitalter der Demokratie alle Glieder der menschlichen Gesellschaft mitwirken: einerseits die Gesetzgeber, mit welchem Namen sie auch bezeichnet werden mögen, denen es obliegt, nach­zusinnen und die Schlüsse zu ziehen; andererseits das Volk, dem es zusteht, seinen Willen durch seine Meinungsäußerung und durch sein Wahlrecht zur Geltung zu bringen. Auch Ihr, ob Ihr zur kommen­den verfassunggebenden Versammlung gehören könnt oder nicht, habt also Eure Aufgabe zu erfül­len, die sich zu gleicher Zeit auf die Gesetzgeber und auf das Volk erstreckt. Welches ist Eure Aufgabe?

Ihr habt es vielleicht schon oft erlebt, daß Ihr in der Kirche San Ignazio Pilger- und „Touristen“-Gruppen begegnet seid. Ihr saht, wie sie im weiten Hauptschiff erstaunt Halt machten, den Blick zur Decke gerichtet, auf die Andrea Pozzo seinen ver­blüffenden Triumph des Heiligen malte, den Triumph in der von Christus ihm anvertrauten Sendung, das göttliche Licht bis in die entlegensten Winkel der Erde zu bringen. Sobald sie den apoka­lyptischen Sturz von Personen und Architekturen erblickten, die über ihren Köpfen aufeinanderpral­len, glaubten sie zuerst, sie stünden vor dem Hirn­gespinst eines Wahnsinnigen. Ihr führtet sie höflich gegen die Mitte. Allmählich, während sie sich ihr näherten, richteten sich die Säulen senkrecht auf und begannen, die Bögen zu tragen, die in den Raum emporsteigen, und jeder der Besucher, der sich auf den kleinen Kreis stellte, der den für das Auge geeignetsten Platz anzeigt, sah das materielle Gewölbe seinem Blick entschwinden. Mit Bestür­zung gewahrte er in der wunderbaren Perspektive eine ganze Welt von Engeln und Heiligen, von Menschen und Teufeln, die rings um Christus und Ignatius, den Mittelpunkt des grandiosen Bildes, leben und sich bewegen.

So bietet auch die Welt dem, der sie nur in ihrer verwickelten und verwirrten Materialität und in ihrem ungeordneten Getriebe sieht, oft den Anblick eines Chaos. Immer wieder stürzen die schönsten Pläne der fähigsten Baumeister zusammen und erwecken den Eindruck, als ob die Ruinen überhaupt nicht mehr aufgebaut werden könnten, als ob es unmöglich wäre, eine neue Welt zu schaf­fen, die auf festen und dauerhaften Grundlagen ruht. Warum?

"Es gibt in dieser Welt einen Stein aus Granit, der von Christus gelegt worden ist. Auf diesen Stein muß man sich stellen und den Blick nach oben richten. Von dort nimmt die Erneuerung aller Dinge in Christus ihren Ausgang." Foto von Alberto Fernandez Fernandez.

‘Es gibt in dieser Welt einen Stein aus Granit, der von Christus gelegt worden ist. Auf diesen Stein muß man sich stellen und den Blick nach oben richten. Von dort nimmt die Erneuerung aller Dinge in Christus ihren Ausgang.’ Foto von Alberto Fernandez Fernandez.

Es gibt in dieser Welt einen Stein aus Granit, der von Christus gelegt worden ist. Auf diesen Stein muß man sich stellen und den Blick nach oben richten. Von dort nimmt die Erneuerung aller Dinge in Christus ihren Ausgang. Nun aber hat Christus ihr Geheimnis geoffenbart: „Quaerite primum regnum Dei et iustitiam eius, et haec omnia adi­cientur vobis“ –„Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! Und alles übrige wird euch hinzugegeben werden“ [Matth. 6, 33].

Man kann also keine gesunde und lebenskräfti­ge Verfassung einer Gesellschaft oder Nation aus­arbeiten, wenn die zwei großen Mächte, der Ge­setzgeber in seinen Überlegungen und Entschlüs­sen und das Volk in der Äußerung seiner freien Meinung und in der Ausübung seines Wahlrechtes, sich nicht beide entschlossen auf jene Grundlage stellen, um nach oben zu schauen und auf ihr Land, auf die Welt das Reich Gottes herabzuziehen. Stehen die Dinge etwa so? Leider sind sie noch weit davon entfernt.

Wie viele in den beratenden Versammlungen wie in der großen Menge, die kein beständiges moralisches Gleichgewicht besitzen, rennen ins Ungewisse und lenken die anderen ins Ungewisse, ins Dunkel, auf den Wegen, die zum Ruin führen! Andere, die sich aus dem Kurs geworfen oder gescheitert fühlen, suchen sorgenvoll oder sehnen sich wenigstens irgendwie verschwommen nach dem Licht, nach einem Lichtschimmer, ohne zu wissen, wo „das wahre Licht“ ist, „das jeden Men­schen erleuchtet, der in diese Welt kommt“ [Joh. 1, 9], ohne ihm anzuhängen. Sie streifen es bei jedem Schritt, ohne es jemals zu erkennen.

Vertreter dieser Traditionen sind vor allem die führenden Klassen oder die Gruppen von Männern und Frauen oder Vereinigungen, die – wie man zu sagen pflegt – den Ton angeben im Dorf...

Vertreter dieser Traditionen sind vor allem die führenden Klassen oder die Gruppen von Männern und Frauen oder Vereinigungen, die – wie man zu sagen pflegt – den Ton angeben im Dorf…

Selbst wenn wir annehmen, daß die Mitglieder jener Versammlungen in den Fragen zeitlicher, po­litischer, wirtschaftlicher, verwaltungsmäßiger Art fachmännisch Bescheid wissen, so sind viele von ihnen unvergleichlich weniger bewandert in den Dingen, die das religiöse Gebiet, die christliche Glaubens- und Sittenlehre, das Wesen, die Rechte und die Sendung der Kirche betreffen. In dem Augenblick, in dem das Gebäude fertig ist, merken sie, daß nichts im Lot steht, weil der Schlußstein des Gewölbes fehlt oder nicht an seinem Platz ist.

Die unzählige, namenlose Menge ihrerseits läßt sich leicht wild in Bewegung setzen. Sie überläßt sich passiv dem blinden Zufall, dem Fluß, der sie mitreißt, oder der Laune der Strömungen, die sie teilen und in die Irre führen. Nachdem die Menge einmal zum Spielzeug der Leidenschaften oder der Interessen ihrer Aufwiegler sowie ihrer eigenen Illusionen geworden ist, weiß sie nicht mehr auf jenem Felsen Fuß zu fassen und sich dort nieder­zulassen, um ein wahres Volk zu bilden, das heißt einen lebendigen Leib mit den Gliedern und den Organen, die zwar nach Form und Funktion ver­schieden gestaltet, aber alle miteinander zu seiner selbständigen Tätigkeit geordnet sind und einheit­lich zusammenwirken.

den Ton angeben...und in der Stadt,...

den Ton angeben…und in der Stadt,…

Schon bei anderer Gelegenheit haben Wir von den Voraussetzungen gesprochen, die notwendig sind, damit ein Volk für eine gesunde Demokratie reif werde. Doch wer vermag es zu dieser Reife zu führen und emporzuheben? Ohne Zweifel könnte die Kirche zu diesem Zweck viele Lehren aus dem Schatz ihrer Erfahrungen und ihrer eigenen zivili­sierenden Tätigkeit hervorholen. Doch Eure Ge­genwart bei Uns veranlaßt Uns zu einer besonderen Bemerkung. Nach dem Zeugnis der Geschichte ist das Leben des Volkes dort, wo eine wahre Demokratie herrscht, von gesunden Traditionen getra­gen, die man nicht niederreißen darf. Vertreter dieser Traditionen sind vor allem die führenden Klassen oder die Gruppen von Männern und Frauen oder Vereinigungen, die – wie man zu sagen pflegt – den Ton angeben im Dorf und in der Stadt, in der Provinz und im ganzen Land.

Dies ist der Grund, warum in allen Kulturvöl­kern im erhabensten Sinn des Wortes hervorragend aristokratische Einrichtungen – wie es manche Akademien von weitreichender Berühmtheit sind – bestehen und Einfluß ausüben. Hierher gehört auch der Adel. Ohne irgend ein Vorrecht oder Monopol zu beanspruchen, ist er eine dieser Ein­richtungen oder sollte es sein: eine traditionelle Einrichtung, die begründet ist auf der Beständig­keit einer althergebrachten Erziehung. Gewiß, in einer demokratischen Gesellschaft, wie die moderne es sein will, kann der bloße Titel der Abstammung nicht ausreichen, um Ansehen und Vertrauen zu erwerben. Um also Euren hohen Stand und Eure soziale Stellung zu bewahren, ja sogar zu stärken und zu erhöhen, müßt Ihr wahrhaft eine Elite sein, müßt Ihr den Bedingungen und Forderungen entsprechen, die in der Zeit, in der wir nun leben, unerläßlich sind.

in der Provinz ...

in der Provinz …

Eine Elite? Das könnt Ihr leicht sein. Ihr habt hinter Euch eine Vergangenheit von jahrhunderte­alten Traditionen, die grundlegende Werte für das gesunde Leben eines Volkes darstellen. Zu diesen Traditionen, auf die Ihr mit Recht stolz seid, zählt Ihr in erster Linie die Religiosität, den lebendigen und werktätigen katholischen Glauben. Hat die Geschichte vielleicht nicht schon grausam bewie­sen, daß jede menschliche Gesellschaft ohne reli­giöse Grundlage unweigerlich ihrer Auflösung ent­gegengeht oder im Terror endet? Euren Ahnen nacheifernd, müßt Ihr also vor dem Volk leuchten durch das Licht Eures Frömmigkeitslebens, durch den Glanz Eurer unerschütterlichen Treue zu Chri­stus und der Kirche.

Zu diesen Traditionen zählt gleichfalls die tadellose Würde eines tief christlichen Ehe- ­und Familienlebens! Aus allen Ländern – we­nigstens aus denen der abendländischen Kultur – ertönt der Angstschrei der Ehe und der Familie, und zwar so herzzerreißend, daß es unmöglich ist, ihn nicht zu hören. Stellt Euch auch hier durch Euer ganzes Verhalten an die Spitze der Erneuerung und Wiederherstellung des häuslichen Herdes!

...und im ganzen Land."

…und im ganzen Land.’

Zu eben diesen Traditionen rechnet ferner jene, daß Ihr in allen Ämtern des öffentlichen Lebens, zu denen Ihr berufen werdet, dem Volk lebendige Vorbilder unbeugsamer Pflichterfüllung seid; un­parteiische und uneigennützige Menschen, die – frei von jeder ungeordneten Ehr- oder Gewinnsucht – einen Posten nur zu dem Zweck annehmen, der guten Sache zu dienen; mutige Menschen, die sich weder durch den Verlust der Gunst von oben noch durch die Drohungen von unten einschüchtern lassen.

Unter dieselben Traditionen stellt endlich jene eines ruhigen und beständigen Festhaltens an all dem, was die Erfahrung und die Geschichte bewährt und geheiligt haben; jene eines Geistes, der unzugänglich ist für die unruhige Aufwiege­lung und die blinde Sucht nach etwas Neuem, die unsere Zeit kennzeichnen, gleichzeitig aber weit geöffnet allen sozialen Nöten. Laßt Euch in der festen Überzeugung, daß nur die Lehre der Kirche den gegenwärtigen Übeln wirksam abhel­fen kann, angelegen sein, ihr den Weg freizuma­chen, und zwar ohne Vorbehalt oder selbstsüch­tige Bedenken, durch Wort und Tat, insbesondere dadurch, daß Ihr in der Verwaltung Eurer Güter sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht wahrhaft mustergültig seid. Ein echter Edelmann leiht seine Hilfe niemals Unterneh­mungen, die nur zum Schaden des Gemeinwohls, zum Nachteil oder Ruin armer Leute bestehen bleiben und gedeihen können. Im Gegenteil wird er seine Ehre darein setzen, auf der Seite der Kleinen zu stehen, der Schwachen, des Volkes, auf der Seite jener, die durch ein ehrbares Hand­werk ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes verdienen. So werdet Ihr wahrhaft eine Elite sein. So werdet Ihr Eure religiöse und christliche Pflicht als gläubige Menschen und als Christen erfüllen. So werdet Ihr Gott und Eurem Land edel dienen.

Aus allen Ländern – we­nigstens aus denen der abendländischen Kultur – ertönt der Angstschrei der Ehe und der Familie, und zwar so herzzerreißend, daß es unmöglich ist, ihn nicht zu hören.

Aus allen Ländern – we­nigstens aus denen der abendländischen Kultur – ertönt der Angstschrei der Ehe und der Familie, und zwar so herzzerreißend, daß es unmöglich ist, ihn nicht zu hören.

Möget Ihr, geliebte Söhne und Töchter, durch Eure herrlichen Traditionen, durch die Pflege Eures Fortschritts und Eure persönlichen, menschlichen und christlichen Vollkommenheit, durch Eure hilfsbereiten Dienste, durch die Liebe und Herzlichkeit Eurer Beziehungen zu allen sozialen Schichten imstande sein, dem Volk dazu zu verhelfen, daß es wieder auf dem wahren Eckstein Fuß fasse, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suche. Dies ist der Wunsch, den Wir für Euch in Worte fassen. Dies ist das Gebet, das Wir unter der Fürbitte des Unbefleckten Herzens Mariä zum göttlichen Herzen des Christ­königs, ja schließlich zum Thron des souveränen Herrn der Völker und Nationen aufsteigen lassen. Überreich komme auf Euch herab seine Gnade, als deren Unterpfand Wir von Herzen Euch allen, Euren Familien, allen Personen, die Euch lieb und teuer sind, Unseren väterlichen Apostolischen Segen erteilen.[1]

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[1] Utz-Groner, S. 1632-1639.

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