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Ansprache vom 14. Januar 1945

Noch einmal inmitten der Erschütterungen, Ver­luste und Sorgen aller Art, die heute die Mensch­heitsfamilie peinigen, seid Ihr, geliebte Söhne und Töchter, gekommen, um Uns die ergebenen Glück­wünsche darzubringen, die Euer erlauchter Spre­cher mit edlen Gefühlen und gewählten Worten vorgetragen hat. Dafür danken Wir Euch von Herzen wie auch für die Gebete, durch die Ihr in einer so bewegten Zeit Uns helft, die ungeheuer schweren Pflichten zu erfüllen, die auf Unsere schwachen Schultern drücken.

 

Nürnberg in Ruinen, Sommer 1945

Wie es nach allen Kriegen und gewaltigen Heimsuchungen immer Wunden zu heilen und Ruinen wiederaufzubauen gibt, so bedarf es nach den großen nationalen Krisen eines völligen Neu­beginns, um ein niedergeschmettertes und schwer mitgenommenes Land in die allgemeine Ordnung zurückzuführen, um ihm zu helfen, daß es den ihm gebührenden Platz wiedergewinne, den Weg zu jenem Fortschritt und Wohlstand wiederaufnehme, den sein Rang und seine Geschichte, seine mate­riellen Reichtümer und seine geistig-religiösen Kräfte ihm zuweisen.

Dieses Mal ist das Wiederaufbauwerk unvergleichlich umfassender, schwieriger und verwic­kelter. Es handelt sich nicht darum, nur eine einzel­ne Nation zum normalen Leben zurückzuführen. Die ganze Welt – so kann man wirklich sagen – muß wiederhergestellt werden. Die materielle Ordnung, die sittliche Ordnung, die soziale Ordnung, die internationale Ordnung – alles ist von neuem zu schaffen und in geregelten und an­haltenden Gang zu bringen. Diese Ruhe der Ordnung, nämlich der Friede, und zwar der einzige wahre Friede kann nur dann wieder ins Leben treten und andauern, wenn dafür gesorgt wird, daß die menschliche Gesellschaft auf Christus ruht, wenn alles wieder in Ihm zusammengefaßt, unter Ihm als dem Haupte vereinigt und lebendig mit Ihm verbunden wird: „Instaurare omnia in Christo„Alles in Christus erneuern“ [Eph. 1, 10], und zwar durch die harmonische Vereinigung der Glieder untereinander und durch ihre organische Einverlei­bung [in Christus als] dem Haupte [Eph. 4, 15].

Nun aber sind sich alle im großen und ganzen darüber einig, daß diese Neuordnung nicht als eine reine und einfache Rückkehr zur Vergangenheit aufgefaßt werden darf. Ein solches Rückwärtsge­hen ist nicht möglich. Denn die Welt ist – selbst in ihrer oft ungeordneten, sprunghaften Bewe­gung ohne Einheit und Folgerichtigkeit – weiter­geschritten. Die Geschichte steht nicht still. Sie kann nicht stillstehen. Unaufhörlich geht sie weiter. Sie verfolgt ihren geordneten und gradlinigen oder ihren wirren und krummen Lauf dem Fortschritt oder einem Trugbild von Fortschritt entgegen. Nichtsdestoweniger geht, ja eilt sie weiter. Es wäre ein eitles und unnützes Unternehmen, einfach rückwärts marschieren zu wollen, um die Welt­ – Wir wollen nicht gerade sagen – zur Unbeweg­lichkeit auf alten Positionen zurückführen, sondern um sie wieder an einen Ausgangspunkt zurückzu­bringen, der auf Grund von Entgleisungen oder falschen Weichenstellungen unglücklicherweise verlassen worden ist. Nicht darin besteht, wie Wir letztes Jahr bei derselben Gelegenheit bemerkt haben, die wahre Tradition. Wie man ein Haus, das dem heutigen Gebrauch dienen soll, nicht haarge­nau nach uraltem Vorbild wiederaufbauen kann, so darf man es auch nicht nach willkürlichen Plänen errichten, selbst wenn sie theoretisch die besten und wünschenswertesten wären. Man muß die un­ausweichliche Wirklichkeit in ihrem ganzen Ausmaß in Rechnung stellen.

Diese Ruhe der Ordnung, nämlich der Friede, und zwar der einzige wahre Friede kann nur dann wieder ins Leben treten und andauern, wenn dafür gesorgt wird, daß die menschliche Gesellschaft auf Christus ruht, wenn alles wieder in Ihm zusammengefaßt, unter Ihm als dem Haupte vereinigt und lebendig mit Ihm verbunden wird: „Instaurare omnia in Christo“ – „Alles in Christus erneuern“ [Eph. 1, 10].

Diese Ruhe der Ordnung, nämlich der Friede, und zwar der einzige wahre Friede kann nur dann wieder ins Leben treten und andauern, wenn dafür gesorgt wird, daß die menschliche Gesellschaft auf Christus ruht, wenn alles wieder in Ihm zusammengefaßt, unter Ihm als dem Haupte vereinigt und lebendig mit Ihm verbunden wird: „Instaurare omnia in Christo“ – „Alles in Christus erneuern“ [Eph. 1, 10].

Damit wollen Wir nicht behaupten, man müsse sich damit zufrieden geben, dem vorbeiflutenden Strom einfach zuzusehen, noch weniger mit dem Strom zu schwimmen, nach seinen wechselnden Launen den Kurs zu wählen, selbst auf die Gefahr hin, das Boot an eine Klippe stoßen oder in einen Abgrund stürzen zu lassen. Die Energie der Wild­bäche und Wasserfälle wurde nicht nur ungefähr­lich, sondern nützlich, fruchtbar und segenbrin­gend gemacht von jenen, die – statt gegen sie zu kämpfen oder ihr zu weichen – sie durch Schleu­sen und Staumauern, durch Kanäle und Umleitun­gen zu bändigen verstanden. Dies ist die Aufgabe der führenden Männer. Unverwandt die unverän­derlichen Grundsätze des menschlichen Handelns im Auge behaltend sollen sie die Fähigkeit und den Willen besitzen, diese unzerstörbaren Gesetze auf die wechselnden Verhältnisse der Stunde anzuwen­den.

In einer hochentwickelten Gesellschaft wie der Unsrigen, die nach dem gewaltigen Zusammen­bruch wieder in Ordnung gebracht werden muß, ist die Aufgabe eines führenden Mannes sehr verschieden: führend ist der Staatsmann, der Politiker; führend ist der Arbeiter, der, ohne zur Gewalt, zur Drohung oder zur hinterlistigen Propaganda zu greifen, durch sein eigenes Verdienst imstande war, sich in seinem Kreis Ansehen und Vertrauen zu erweben; führend sind – jeder auf seinem Gebiet – der Ingenieur und der Rechtsanwalt, der Diplo­mat und der Volkswirtschaftler, ohne deren Hilfe die materielle, soziale und internationale Welt in die Brüche ginge; führend sind der Universitäts­professor, der Redner und der Schriftsteller, die danach trachten, die Geister zu bilden und zu leiten; führend ist der Offizier, der seinen Soldaten Sinn für Pflicht, Dienst und Opferbereitschaft einflößt; führend ist der Arzt in der Ausübung seiner Heil­kunst; führend ist der Priester, der den Seelen den Weg des Lichts und des Heils zeigt und ihnen die Gnaden vermittelt, damit sie sicher auf ihm wandeln und voranschreiten können.

Welches ist in dieser Vielfalt führender Tätig­keiten Euer Platz, Eure Aufgabe, Eure Pflicht? – Sie tritt Euch in zweifacher Gestalt entgegen: als persönliche Aufgabe und Pflicht jedes einzelnen von Euch und als Aufgabe und Pflicht der Klasse, der Ihr angehört.

Die Kraft der Wildbäche und Wasserfälle wurde von denen, die, statt reagieren gegen sie oder geben in sie, wusste, wie man es mit Hilfe von Schleusen, Dämme, Kanäle und Umleitungen zu nutzen harmlos, aber nützlich, fruchtbaren und wohlübertrug nicht nur. Das ist die Aufgabe, der Führer. Der Wasserfall bei Terni. Gemälde von Jacob Philipp Hackert.

Die Kraft der Wildbäche und Wasserfälle wurde von denen, die, statt reagieren gegen sie oder geben in sie, wusste, wie man es mit Hilfe von Schleusen, Dämme, Kanäle und Umleitungen zu nutzen harmlos, aber nützlich, fruchtbaren und wohlübertrug nicht nur. Das ist die Aufgabe, der Führer.
Der Wasserfall bei Terni. Gemälde von Jacob Philipp Hackert.

Die persönliche Pflicht verlangt, daß Ihr Euch durch Eure Tugend, durch Euren Fleiß bemüht, in Eurem Beruf führend zu werden. Tatsächlich wissen wir wohl, daß die heutige Jugend Eures edlen Kreises im Bewußtsein der dunklen Gegen­wart und der noch ungewisseren Zukunft völlig davon überzeugt ist, daß die Arbeit nicht nur eine soziale Pflicht, sondern auch eine Lebenssicherung für jeden einzelnen bedeutet. Und Wir verstehen das Wort Beruf im weitesten und umfassendsten Sinn, wie Wir es schon letztes Jahr herauszustellen hatten: technische oder freie Berufe, aber auch politische und soziale Tätigkeit, geistige Arbeit, Unternehmungen aller Art, umsichtige, sorgfältige und emsige Verwaltung Eurer Vermögen, Eurer Landgüter nach den modernsten und erprobtesten Anbauweisen zum materiellen, sittlichen, sozialen und geistig-religiösen Wohl der auf ihnen lebenden Landarbeiter bzw. Landbevölkerung. In jeder dieser Be­rufssparten müßt Ihr alle Mühe aufwenden, um Euch als Führende zu bewähren, sei es um des Vertrauens willen, das jene auf Euch setzen, die den gesunden und lebendigen Traditionen treu geblie­ben sind, sei es wegen des Mißtrauens vieler anderer, eines Mißtrauens, das Ihr überwinden müßt, indem Ihr Euch ihre Hochschätzung und Achtung dadurch erwerbt, daß Ihr in allem hervor­ragt an dem Posten, auf dem Ihr steht, in der Tätig­keit, die Ihr ausübt, welcher Art auch immer dieser Posten oder diese Tätigkeit sein mag.

Worin soll sich nun aber zeigen, daß Ihr in Tat und Leben hervorragt? Und welches sind hierbei die wichtigsten Eigenschaften?

Kaiser Karl I. von Österreich und Zita von Bourbon-Parma, 1914.

Kaiser Karl I. von Österreich und Zita von Bourbon-Parma, 1914.

Vor allem offenbart es sich in der Vollkommen­heit Eurer Arbeit, ob sie nun technisch oder wis­senschaftlich, künstlerisch oder welcher Art auch sei. Die Arbeit Eurer Hände und Eures Geistes muß jenen Stempel der Vortrefflichkeit und Vollkommenheit an sich tragen, der sich nicht von heute auf morgen aneignen läßt, sondern die Feinheit der Seele und des Gewissens, des von Euren Ahnen ererbten und vom christlichen Ideal unaufhörlich genährten Denkens und Fühlens widerspiegelt.

Ebenso tritt es zutage in dem, was man die Humanität nennen kann, das heißt die Gegenwart, das Hervortreten des vollgültigen Menschen in allen Ausdrucksformen seiner Tätigkeit – auch der spezialisierten – in einer Weise, daß die Spe­zialisierung in seinem Fach nie zu einer Übertrie­benheit wird, daß sie die Allgemeinbildung weder verkümmern lasse noch zurückdränge, so eben, daß – musikalisch ausgedrückt – die Dominante weder die Harmonie zerstören noch die Melodie erdrücken darf.

Es zeigt sich außerdem in der Würde des ganzen Verhaltens und Benehmens, in einer Würde, die jedoch nicht herrisch auftritt, in einer Würde, die, weit entfernt, die Abstände zu betonen, sie nur im Notfall durchscheinen läßt, um den anderen einen höheren Adel der Seele, des Geistes und des Herzens einzuflößen.

Schließlich kommt es hauptsächlich zum Vor­schein im Sinn für höhere Sittlichkeit, Geradheit, Ehrlichkeit und Redlichkeit, in jenem Sinn, der jedes Wort und jede Tat prägen muß. Eine sitten­widrige oder sittenlose Gesellschaft, die den Un­terschied zwischen Gut und Böse in ihrem Ge­wissen nicht mehr empfindet und in ihren Hand­lungen nicht mehr hervortreten läßt, die vor der Schaustellung der Verderbtheit nicht mehr er­schaudert, ja, die sie entschuldigt, sich ihr neutral anpaßt, sie womöglich gar wohlgefällig aufnimmt, sie ohne Unruhe oder Gewissensbisse praktiziert, sie ohne Erröten offen zeigt, sich zu ihr herabwürdigt, die Tugend verlacht, eine solche Gesellschaft ist auf dem Weg zum eigenen Untergang.

Die hohe Gesellschaft Frankreichs im achtzehn­ten Jahrhundert ist dafür unter vielen anderen ein tragisches Beispiel. Nie war eine Gesellschaft feiner, eleganter, glänzender und bezaubernder. Die verschiedensten Ergötzungen des Geistes, eine intensive Verstandeskultur, eine äußerst verfeiner­te Kunst zu genießen, eine ausgesuchte Gepflegt­heit der Umgangsformen und der Sprache herrsch­ten in jener nach außen so höflichen und liebens­würdigen Gesellschaft, in der jedoch alles – die Bücher und Schriften, die Figuren und Geräte, die Kleider und Kopfbedeckungen – zu einer Sinn­lichkeit reizte, die in die Adern und in die Herzen eindrang, so daß selbst die eheliche Untreue nicht mehr Überraschung oder Empörung hervorrief. So arbeitete diese Gesellschaft selbst an ihrem eigenen Zerfall und rannte dem mit eigenen Händen gegrabenen Abgrund des Verderbens entgegen.

Deutscher Kardinal Clemens August Graf von Galen (vollständig: Clemens Augustinus Joseph Emmanuel Pius Antonius Hubertus Marie Graf von Galen;) 16. März 1878 in Dinklage, Oldenburger Münsterland; † 22. März 1946 in Münster, Westfalen.

Es zeigt sich außerdem in der Würde des ganzen Verhaltens und Benehmens, in einer Würde, die jedoch nicht herrisch auftritt, in einer Würde, die, weit entfernt, die Abstände zu betonen, sie nur im Notfall durchscheinen läßt, um den anderen einen höheren Adel der Seele, des Geistes und des Herzens einzuflößen.  Deutscher Kardinal Clemens August Graf von Galen.

Ganz anders ist die wahre Vornehmheit: sie bringt in den gesellschaftlichen Beziehungen eine Demut voll Größe, eine Nächstenliebe ohne alle Selbstsucht, ohne alles Suchen des eigenen Vorteils zum Aufleuchten. Wir wissen wohl, mit welcher Güte und Liebenswürdigkeit, mit welcher Hingabe und Selbstverleugnung viele und besonders viele von Euch in diesen Zeiten unendlicher Nöte und Sorgen sich zu den Unglücklichen herabgebeugt, das Licht ihrer wohltätigen Liebe in allen fort­schrittlichsten und wirksamsten Formen auszu­strahlen verstanden haben. Dies ist gerade die andere Seite Eurer Sendung.

DAB

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Denn nichts steht trotz blinder und verleumde­rischer Vorurteile so schroff im Widerspruch zum christlichen Empfinden und zum wahren Sinn und Daseinszweck Eures Standes in allen Ländern, be­sonders aber hier in Rom, der Mutter des Glaubens und des gesitteten Lebens, wie der enge Kastengeist. Die Kaste spaltet die menschliche Gesell­schaft in Gruppen und Abteilungen, die durch un­durchdringliche Mauern voneinander getrennt sind. Die Ritterlichkeit, die Höflichkeit stammen überwiegend aus christlichem Geist. Dieser ist das Band, das ohne Wirrwarr und Unordnung alle Klassen miteinander vereint. Weit entfernt, Euch zu einer anmaßenden Absonderung zu verpflich­ten, drängt Euch Eure Herkunft vielmehr dazu, in alle sozialen Kreise einzudringen, um ihnen jene Liebe zur Vollkommenheit, zur inneren Kultur, zur Würde, jenes Gefühl mitleidender Solidarität zu vermitteln, das die Blüte der christlichen Bildung darstellt.

Welch eine edle Aufgabe hat die göttliche Vor­sehung Euch in der gegenwärtigen Stunde der Zer­rissenheit und des Hasses zugedacht! Erfüllt sie mit Eurem ganzen Glauben und mit Eurer ganzen Liebe!

Mit diesem Anliegen und zum Beweis Unserer väterlichen Glückwünsche für das bereits begon­nene Jahr erteilen Wir von Herzen Euch und allen Euren Familien Unseren Apostolischen Segen.[1]

[1] Utz-Groner, S. 1620-1626.

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