Noch einmal inmitten der Erschütterungen, Verluste und Sorgen aller Art, die heute die Menschheitsfamilie peinigen, seid Ihr, geliebte Söhne und Töchter, gekommen, um Uns die ergebenen Glückwünsche darzubringen, die Euer erlauchter Sprecher mit edlen Gefühlen und gewählten Worten vorgetragen hat. Dafür danken Wir Euch von Herzen wie auch für die Gebete, durch die Ihr in einer so bewegten Zeit Uns helft, die ungeheuer schweren Pflichten zu erfüllen, die auf Unsere schwachen Schultern drücken.
Wie es nach allen Kriegen und gewaltigen Heimsuchungen immer Wunden zu heilen und Ruinen wiederaufzubauen gibt, so bedarf es nach den großen nationalen Krisen eines völligen Neubeginns, um ein niedergeschmettertes und schwer mitgenommenes Land in die allgemeine Ordnung zurückzuführen, um ihm zu helfen, daß es den ihm gebührenden Platz wiedergewinne, den Weg zu jenem Fortschritt und Wohlstand wiederaufnehme, den sein Rang und seine Geschichte, seine materiellen Reichtümer und seine geistig-religiösen Kräfte ihm zuweisen.
Dieses Mal ist das Wiederaufbauwerk unvergleichlich umfassender, schwieriger und verwickelter. Es handelt sich nicht darum, nur eine einzelne Nation zum normalen Leben zurückzuführen. Die ganze Welt – so kann man wirklich sagen – muß wiederhergestellt werden. Die materielle Ordnung, die sittliche Ordnung, die soziale Ordnung, die internationale Ordnung – alles ist von neuem zu schaffen und in geregelten und anhaltenden Gang zu bringen. Diese Ruhe der Ordnung, nämlich der Friede, und zwar der einzige wahre Friede kann nur dann wieder ins Leben treten und andauern, wenn dafür gesorgt wird, daß die menschliche Gesellschaft auf Christus ruht, wenn alles wieder in Ihm zusammengefaßt, unter Ihm als dem Haupte vereinigt und lebendig mit Ihm verbunden wird: „Instaurare omnia in Christo“ – „Alles in Christus erneuern“ [Eph. 1, 10], und zwar durch die harmonische Vereinigung der Glieder untereinander und durch ihre organische Einverleibung [in Christus als] dem Haupte [Eph. 4, 15].
Nun aber sind sich alle im großen und ganzen darüber einig, daß diese Neuordnung nicht als eine reine und einfache Rückkehr zur Vergangenheit aufgefaßt werden darf. Ein solches Rückwärtsgehen ist nicht möglich. Denn die Welt ist – selbst in ihrer oft ungeordneten, sprunghaften Bewegung ohne Einheit und Folgerichtigkeit – weitergeschritten. Die Geschichte steht nicht still. Sie kann nicht stillstehen. Unaufhörlich geht sie weiter. Sie verfolgt ihren geordneten und gradlinigen oder ihren wirren und krummen Lauf dem Fortschritt oder einem Trugbild von Fortschritt entgegen. Nichtsdestoweniger geht, ja eilt sie weiter. Es wäre ein eitles und unnützes Unternehmen, einfach rückwärts marschieren zu wollen, um die Welt – Wir wollen nicht gerade sagen – zur Unbeweglichkeit auf alten Positionen zurückführen, sondern um sie wieder an einen Ausgangspunkt zurückzubringen, der auf Grund von Entgleisungen oder falschen Weichenstellungen unglücklicherweise verlassen worden ist. Nicht darin besteht, wie Wir letztes Jahr bei derselben Gelegenheit bemerkt haben, die wahre Tradition. Wie man ein Haus, das dem heutigen Gebrauch dienen soll, nicht haargenau nach uraltem Vorbild wiederaufbauen kann, so darf man es auch nicht nach willkürlichen Plänen errichten, selbst wenn sie theoretisch die besten und wünschenswertesten wären. Man muß die unausweichliche Wirklichkeit in ihrem ganzen Ausmaß in Rechnung stellen.
Damit wollen Wir nicht behaupten, man müsse sich damit zufrieden geben, dem vorbeiflutenden Strom einfach zuzusehen, noch weniger mit dem Strom zu schwimmen, nach seinen wechselnden Launen den Kurs zu wählen, selbst auf die Gefahr hin, das Boot an eine Klippe stoßen oder in einen Abgrund stürzen zu lassen. Die Energie der Wildbäche und Wasserfälle wurde nicht nur ungefährlich, sondern nützlich, fruchtbar und segenbringend gemacht von jenen, die – statt gegen sie zu kämpfen oder ihr zu weichen – sie durch Schleusen und Staumauern, durch Kanäle und Umleitungen zu bändigen verstanden. Dies ist die Aufgabe der führenden Männer. Unverwandt die unveränderlichen Grundsätze des menschlichen Handelns im Auge behaltend sollen sie die Fähigkeit und den Willen besitzen, diese unzerstörbaren Gesetze auf die wechselnden Verhältnisse der Stunde anzuwenden.In einer hochentwickelten Gesellschaft wie der Unsrigen, die nach dem gewaltigen Zusammenbruch wieder in Ordnung gebracht werden muß, ist die Aufgabe eines führenden Mannes sehr verschieden: führend ist der Staatsmann, der Politiker; führend ist der Arbeiter, der, ohne zur Gewalt, zur Drohung oder zur hinterlistigen Propaganda zu greifen, durch sein eigenes Verdienst imstande war, sich in seinem Kreis Ansehen und Vertrauen zu erweben; führend sind – jeder auf seinem Gebiet – der Ingenieur und der Rechtsanwalt, der Diplomat und der Volkswirtschaftler, ohne deren Hilfe die materielle, soziale und internationale Welt in die Brüche ginge; führend sind der Universitätsprofessor, der Redner und der Schriftsteller, die danach trachten, die Geister zu bilden und zu leiten; führend ist der Offizier, der seinen Soldaten Sinn für Pflicht, Dienst und Opferbereitschaft einflößt; führend ist der Arzt in der Ausübung seiner Heilkunst; führend ist der Priester, der den Seelen den Weg des Lichts und des Heils zeigt und ihnen die Gnaden vermittelt, damit sie sicher auf ihm wandeln und voranschreiten können.
Welches ist in dieser Vielfalt führender Tätigkeiten Euer Platz, Eure Aufgabe, Eure Pflicht? – Sie tritt Euch in zweifacher Gestalt entgegen: als persönliche Aufgabe und Pflicht jedes einzelnen von Euch und als Aufgabe und Pflicht der Klasse, der Ihr angehört.
Die persönliche Pflicht verlangt, daß Ihr Euch durch Eure Tugend, durch Euren Fleiß bemüht, in Eurem Beruf führend zu werden. Tatsächlich wissen wir wohl, daß die heutige Jugend Eures edlen Kreises im Bewußtsein der dunklen Gegenwart und der noch ungewisseren Zukunft völlig davon überzeugt ist, daß die Arbeit nicht nur eine soziale Pflicht, sondern auch eine Lebenssicherung für jeden einzelnen bedeutet. Und Wir verstehen das Wort Beruf im weitesten und umfassendsten Sinn, wie Wir es schon letztes Jahr herauszustellen hatten: technische oder freie Berufe, aber auch politische und soziale Tätigkeit, geistige Arbeit, Unternehmungen aller Art, umsichtige, sorgfältige und emsige Verwaltung Eurer Vermögen, Eurer Landgüter nach den modernsten und erprobtesten Anbauweisen zum materiellen, sittlichen, sozialen und geistig-religiösen Wohl der auf ihnen lebenden Landarbeiter bzw. Landbevölkerung. In jeder dieser Berufssparten müßt Ihr alle Mühe aufwenden, um Euch als Führende zu bewähren, sei es um des Vertrauens willen, das jene auf Euch setzen, die den gesunden und lebendigen Traditionen treu geblieben sind, sei es wegen des Mißtrauens vieler anderer, eines Mißtrauens, das Ihr überwinden müßt, indem Ihr Euch ihre Hochschätzung und Achtung dadurch erwerbt, daß Ihr in allem hervorragt an dem Posten, auf dem Ihr steht, in der Tätigkeit, die Ihr ausübt, welcher Art auch immer dieser Posten oder diese Tätigkeit sein mag.
Worin soll sich nun aber zeigen, daß Ihr in Tat und Leben hervorragt? Und welches sind hierbei die wichtigsten Eigenschaften?
Vor allem offenbart es sich in der Vollkommenheit Eurer Arbeit, ob sie nun technisch oder wissenschaftlich, künstlerisch oder welcher Art auch sei. Die Arbeit Eurer Hände und Eures Geistes muß jenen Stempel der Vortrefflichkeit und Vollkommenheit an sich tragen, der sich nicht von heute auf morgen aneignen läßt, sondern die Feinheit der Seele und des Gewissens, des von Euren Ahnen ererbten und vom christlichen Ideal unaufhörlich genährten Denkens und Fühlens widerspiegelt.
Ebenso tritt es zutage in dem, was man die Humanität nennen kann, das heißt die Gegenwart, das Hervortreten des vollgültigen Menschen in allen Ausdrucksformen seiner Tätigkeit – auch der spezialisierten – in einer Weise, daß die Spezialisierung in seinem Fach nie zu einer Übertriebenheit wird, daß sie die Allgemeinbildung weder verkümmern lasse noch zurückdränge, so eben, daß – musikalisch ausgedrückt – die Dominante weder die Harmonie zerstören noch die Melodie erdrücken darf.
Es zeigt sich außerdem in der Würde des ganzen Verhaltens und Benehmens, in einer Würde, die jedoch nicht herrisch auftritt, in einer Würde, die, weit entfernt, die Abstände zu betonen, sie nur im Notfall durchscheinen läßt, um den anderen einen höheren Adel der Seele, des Geistes und des Herzens einzuflößen.
Schließlich kommt es hauptsächlich zum Vorschein im Sinn für höhere Sittlichkeit, Geradheit, Ehrlichkeit und Redlichkeit, in jenem Sinn, der jedes Wort und jede Tat prägen muß. Eine sittenwidrige oder sittenlose Gesellschaft, die den Unterschied zwischen Gut und Böse in ihrem Gewissen nicht mehr empfindet und in ihren Handlungen nicht mehr hervortreten läßt, die vor der Schaustellung der Verderbtheit nicht mehr erschaudert, ja, die sie entschuldigt, sich ihr neutral anpaßt, sie womöglich gar wohlgefällig aufnimmt, sie ohne Unruhe oder Gewissensbisse praktiziert, sie ohne Erröten offen zeigt, sich zu ihr herabwürdigt, die Tugend verlacht, eine solche Gesellschaft ist auf dem Weg zum eigenen Untergang.
Die hohe Gesellschaft Frankreichs im achtzehnten Jahrhundert ist dafür unter vielen anderen ein tragisches Beispiel. Nie war eine Gesellschaft feiner, eleganter, glänzender und bezaubernder. Die verschiedensten Ergötzungen des Geistes, eine intensive Verstandeskultur, eine äußerst verfeinerte Kunst zu genießen, eine ausgesuchte Gepflegtheit der Umgangsformen und der Sprache herrschten in jener nach außen so höflichen und liebenswürdigen Gesellschaft, in der jedoch alles – die Bücher und Schriften, die Figuren und Geräte, die Kleider und Kopfbedeckungen – zu einer Sinnlichkeit reizte, die in die Adern und in die Herzen eindrang, so daß selbst die eheliche Untreue nicht mehr Überraschung oder Empörung hervorrief. So arbeitete diese Gesellschaft selbst an ihrem eigenen Zerfall und rannte dem mit eigenen Händen gegrabenen Abgrund des Verderbens entgegen.
Ganz anders ist die wahre Vornehmheit: sie bringt in den gesellschaftlichen Beziehungen eine Demut voll Größe, eine Nächstenliebe ohne alle Selbstsucht, ohne alles Suchen des eigenen Vorteils zum Aufleuchten. Wir wissen wohl, mit welcher Güte und Liebenswürdigkeit, mit welcher Hingabe und Selbstverleugnung viele und besonders viele von Euch in diesen Zeiten unendlicher Nöte und Sorgen sich zu den Unglücklichen herabgebeugt, das Licht ihrer wohltätigen Liebe in allen fortschrittlichsten und wirksamsten Formen auszustrahlen verstanden haben. Dies ist gerade die andere Seite Eurer Sendung.
Denn nichts steht trotz blinder und verleumderischer Vorurteile so schroff im Widerspruch zum christlichen Empfinden und zum wahren Sinn und Daseinszweck Eures Standes in allen Ländern, besonders aber hier in Rom, der Mutter des Glaubens und des gesitteten Lebens, wie der enge Kastengeist. Die Kaste spaltet die menschliche Gesellschaft in Gruppen und Abteilungen, die durch undurchdringliche Mauern voneinander getrennt sind. Die Ritterlichkeit, die Höflichkeit stammen überwiegend aus christlichem Geist. Dieser ist das Band, das ohne Wirrwarr und Unordnung alle Klassen miteinander vereint. Weit entfernt, Euch zu einer anmaßenden Absonderung zu verpflichten, drängt Euch Eure Herkunft vielmehr dazu, in alle sozialen Kreise einzudringen, um ihnen jene Liebe zur Vollkommenheit, zur inneren Kultur, zur Würde, jenes Gefühl mitleidender Solidarität zu vermitteln, das die Blüte der christlichen Bildung darstellt.
Welch eine edle Aufgabe hat die göttliche Vorsehung Euch in der gegenwärtigen Stunde der Zerrissenheit und des Hasses zugedacht! Erfüllt sie mit Eurem ganzen Glauben und mit Eurer ganzen Liebe!
Mit diesem Anliegen und zum Beweis Unserer väterlichen Glückwünsche für das bereits begonnene Jahr erteilen Wir von Herzen Euch und allen Euren Familien Unseren Apostolischen Segen.[1]
[1] Utz-Groner, S. 1620-1626.
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