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Ansprache vom 19. Januar 1944

 

Des düsseldorfer Schlosses Gemälde von August von Wille.

Ihr habt, geliebte Söhne und Töchter, sicher nicht gewollt, daß Euch die derzeitigen Heimsu­chungen, die in den ruhigen Ablauf des familiären und gesellschaftlichen Lebens eingebrochen sind und ihn stören, davon abhalten könnten, wie in anderen Jahren, zu Uns zu kommen, um Uns, in kindlicher Verehrung die Ehre Eurer Glückwün­sche zu erweisen. Unsere tragische und schmerzliche Periode, voller Angst und Sorgen, legt uns allen schwere Pflichten auf, zwingt Uns zu Vorkehrun­gen und Vorsätzen in Anbetracht der notwendigen Wiederherstellung der menschlichen Gemein­schaft in einer ruhigen und friedlichen neuen Zeit, nach dem Ende der ungeheuren Umwälzungen auf dieser Erde. Niemals noch war es nötiger zu beten! Noch nie kamen Gelübde so gelegen! Mit der ganzen Liebe Unseres Herzens danken Wir Euch, die Ihr Uns mit den Worten Eures hervorragenden Wortführers, mehr noch, mit der Hilfe, die in Euren Absichten und Handlungen liegt, beschenkt habt. Wir wissen, daß Wir diese Hilfe immer bei Euch finden werden. Wenn das Haus brennt, ist es das erste, um Hilfe zu rufen, um das Feuer zu löschen. Nach der Katastrophe aber ist es geboten, die Schäden zu beheben und das Haus wieder aufzubauen.

Wir sind heute Zeugen eines der größten Brände der Weltgeschichte, einer der tiefgreifendsten po­litischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die in der Geschichte vermerkt sind. Diesen Erschüt­terungen folgt jedoch eine neue Ordnung, deren Geheimnisse noch im Herzen und den Plänen Gottes verborgen sind. Eines Gottes, der vorsorg­lich den Ablauf der Geschehnisse und die Ziele der Geschichte der Menschheit lenkt.

Foto von Rama

Ist denn etwa die menschliche Gemeinschaft­ oder sollte sie es nicht so sein – zu vergleichen mit einer gut funktionierenden Maschine, bei der jeder Bestandteil zum harmonischen Funktionieren bei­trägt? Foto von Rama

Die Ereignisse auf dieser Welt fließen dahin, wie ein Strom an den Ufern der Zeit. Die Vergan­genheit räumt notgedrungen den Platz, und der Weg für die Zukunft und für die Gegenwart ist nichts weiter als ein flüchtiger Augenblick, der die beiden verbindet. Das ist einfach so, ein gesetzmäßiger Ablauf, an sich nichts Böses. Böse wäre es, wenn diese Gegenwart, die nur eine ruhige Welle mit Dahinfließen des Stromes der Zeit ist, sich in einen Brecher verwandelte, der alles, wie ein Taifun oder Zyklon, was auf seinem Wege liegt, zerstört und mit Urgewalt vernichtend, einen Graben aufwirft, zwischen dem, was war, und dem, was kommen soll. Solche wilde Sprünge, die die Geschichte in ihrem Ablauf macht, bilden das, was man eine Krise nennt, das heißt, eine gefährliche Periode, die zur Erlösung oder zum endgültigen Untergang führen kann. Krisen, deren Lösung noch geheim­nisvoll verhüllt, sich hinter den schwarzen Wolken der Kräfte in Aufruhr verbirgt.

Wer umsichtig und ernst die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit studiert, kann nicht be­streiten, daß es möglich gewesen wäre, was an Bösem geschehen ist, zu verhindern und der Welt­krise durch normales Vorgehen vorzubeugen. Das wäre geschehen, wenn jeder, mutig und anständig das getan hätte, wozu die Göttliche Vorsehung ihn bestimmt hat.

Ist denn etwa die menschliche Gemeinschaft­ oder sollte sie es nicht so sein – zu vergleichen mit einer gut funktionierenden Maschine, bei der jeder Bestandteil zum harmonischen Funktionieren bei­trägt? Jeder Mensch hat seine Bestimmung, jeder muß dem Fortschritt der Gemeinschaft dienen, deren Verbesserung er mit seinen ganzen Kräften und eigenen Talenten zu dienen hat. So muß es sein, wenn jeder wirklich seinen Nächsten liebt und vernünftigerweise das allgemeine Wohl anstrebt.

Nun gut, welche Aufgabe wurde Euch, geliebte Söhne und Töchter, in besonderer Weise zugeteilt? Welche Mission sollt Ihr erfüllen? Sicherlich jene, die normale Entwicklung zu fördern. Diese Aufgabe fällt bei einer Maschine dem Regler zu, dem Schwungrad oder dem Reostat, die Teile des Ganzen sind, von ihm einen Teil der Energie bezie­hen und dafür zu sorgen haben, daß der ganze Apparat zweckentsprechend funktioniert. Mit anderen Worten, Patrizier und Adelige, Ihr seid die Tradition und setzt sie fort.

Henri de la Tour d

Henri de la Tour d’Auvergne, Vicomte de Turenne (1611-1675).

Dieses Wort klingt bekanntlich unangenehm für viele Ohren. Es mißfällt und das mit Grund, wenn es von gewissen Lippen herkommt. Manche Leute verstehen es falsch, andere gebrauchen es als fal­schen Vorwand für ihren untätigen Egoismus. An­gesichts solcher Mißverständnisse und dramati­schen Uneinigkeit, gibt es nicht wenige neiderfüll­te und zahlreiche feindselige, böswillige Stimmen, oft auch schlicht dumme oder irrgeleitete, die Euch die Frage stellen und unverhüllt um Antwort bitten: wozu dient Ihr eigentlich? Um ihnen zu antworten, ist es vor allem nötig, den wirklichen Sinn und Wert der Tradition zu verstehen, deren Repräsentanten Ihr, mehr als alles andere, zu sein wünscht.

Viele meinen, auch aufrichtigerweise, daß Tra­dition nichts weiter als die Erinnerung ist, die ver­blaßte Spur einer Zeit, die vergangen ist und nicht mehr existiert, nicht wiederkehren kann und, be­stenfalls, mit Verehrung und vielleicht mit Anerkennung zur Aufbewahrung in einem von wenigen Freunden und Bewunderern besuchten Museum zurückverdrängt wird. Wenn das aber die Tradition wäre und es sich darauf beschränken und zugleich bedeuten würde, den Weg in die Zukunft ablehnen oder verachten zu wollen, wäre es sicher vernünf­tig, der Tradition Respekt und Verehrung zu versa­gen. Die wehmütigen Träumer der Vergangenheit müßten dann mit Mitleid gesehen werden, die ewig Gestrigen, vor der Vergangenheit und – mehr noch – der Zukunft. Aber strenger noch, müßten diejenigen beurteilt werden, die auf Grund ihrer wenig anständigen und sauberen Motive nichts weiter sind, als Deserteure der Pflichten, welche die so schmerzliche Gegenwart auferlegt.

 

Gestützt auf die Tradition, erleuchtet und geführt durch die Lebenserfahrung der Alten, schreitet die Jugend mit festem Schritt vorwärts. Die Alten übergeben vertrauensvoll den Pflug in stärkere Hände, welche die begonnenen Furchen wei­terziehen. Die neue Rüstung. Gemälde von Franz Eduard Meyerheim.

Tradition ist aber viel mehr als nur einfache Anhänglichkeit an eine Zeit, die vergangen ist und genau das Gegenteil einer Haltung, die jedem ge­sundem Fortschritt mißtraut. Etymologisch beur­teilt, ist das Wort „Tradition ein Synonym für den Weg und den Mensch in die Zukunft, Synonym, aber nicht gleichbedeutend. Tatsächlich bedeutet „Fortschritt“ doch nichts anderes als die Tatsache des Fortschreitens, Schritt vor Schritt, mit Blick­richtung auf ein ungewisses Ziel. „Tradition“ hin­gegen, bezeichnet zwar auch einen Weg in die Zukunft, aber einen Weg, der fortsetzt, was schon zurückgelegt wurde, einen Weg, der gleichzeitig ruhig aber lebhaft, den Lebensgesetzen folgend, die ängstlichen Alternativen: si jeunesse savait, si vieillesse pouvait! [wenn die Jugend wüßte, wenn das Alter könnte], umgeht. Wie jener Herr de Turenne, von dem erzählt wird: „ll a eu dans sa jeunesse toute la prudence d’un age avancé, et dans sa vieillesse, toute la vigueur de la jeunesse“ [in seiner Jugend besaß er die Klugheit der Älteren und im vorgeschrittenen Alter, die ganze Kraft der Jugend]. (Flechier, Grabrede, 1676).

Gestützt auf die Tradition, erleuchtet und geführt durch die Lebenserfahrung der Alten, schreitet die Jugend mit festem Schritt vorwärts. Die Alten übergeben vertrauensvoll den Pflug in stärkere Hände, welche die begonnenen Furchen wei­terziehen. Wie das Wort schon sagt, ist die Tradi­tion eine Gabe, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, eine Fackel, die ein Läufer dem anderen übergibt, im Vertrauen darauf, daß der Lauf nicht stocken oder langsamer werden wird. Tradition und Fortschritt ergänzen sich gegenseitig harmonisch. Tradition ohne Fortschritt ist ebenso ein Widerspruch in sich selbst, wie Fortschritt ohne Tradition nichts weiter wäre, wie ein wagemütiges Unternehmen, ein Sprung ins Dunkel.

Es dreht sich wahrlich nicht darum, gegen den Strom zu rudern, zurückgehen zu wollen zu Le­bensformen und Handlungsweisen vergangener Zeiten. Es gilt fortzusetzen, was in der Vergangen­heit sich als das Beste erwiesen hat, der Zukunft entgegenzuschreiten mit der unüberwindlichen Kraft der Jugend.

 

Es war ein großer Tag in der Geschichte der Medizin, als der berühmte Laennec, ein genialer und gläubiger Mensch, hilfsbereit über die Kranken gebeugt, mit dem von ihm erfundenem Stethoskop abhörend, den leisesten Hauch vernehmend, die fast unhörba­ren Geräusche der Lungen und des Herzens erklä­ren konnte. René-Théophile-Hyacinthe Laennec. Gemälde von Théobald Chartran.

Wenn Ihr so handelt, ist Eure glänzende Beru­fung bereits vorgezeichnet, groß und reich an Arbeit, für deren Erfüllung Euch der Dank aller sicher sein müßte und Euch über die Angriffe, von einer oder der anderen Seite, erhaben erweisen wird.

Solange Ihr, in Vorsorge für die Zukunft beab­sichtigt, zum wirklichen Fortschritt beizutragen, der eine gesündere und glücklichere Zukunft zum Ziele hat, wäre es ungerecht und undankbar, Euch Eure Verehrung der Vergangenheit als ehrrührig vorwerfen zu wollen. Das selbe gilt auch für das genaue Studium der Geschichte, die Liebe zu den frommen Gebräuchen und die unwandelbare Treue den ewigen Gesetzen gegenüber. Die ruhmreichen oder unglücklichen Beispiele derer, die vor unseren Zeiten lebten, sind Lehre und Licht auf Euren Wegen. Mit Recht wurde gesagt, daß die Lehren der Vergangenheit die Menschheit formen, wie einem Mann, der immer vorwärts schreitet und nicht altert. Ihr lebt in der modernen Gesellschaft nicht wie Immigranten in einem fernen Land, sondern als verdiente und geachtete Bürger, die mit ihren Mitbürgern zusammen arbeiten und die Ge­sundung, den Wiederaufbau und den Fortschritt in der Welt vorbereiten wollen.

Es gibt Schlechtes in der Gesellschaft, so wie es Schlechtes bei einzelnen Menschen gibt. Es war ein großer Tag in der Geschichte der Medizin, als der berühmte Laennec, ein genialer und gläubiger Mensch, hilfsbereit über die Kranken gebeugt, mit dem von ihm erfundenem Stethoskop abhörend, den leisesten Hauch vernehmend, die fast unhörba­ren Geräusche der Lungen und des Herzens erklä­ren konnte. Ist es aber nicht ebenso eine soziale Funktion erster Ordnung und von höchstem Inter­esse, unter das Volk zu gehen, um seine Erwartun­gen und die unklaren Verhältnisse der Zeitgenossen zu erkennen? Ihre Herzen schlagen zu hören, Heil­mittel für das allgemeine Elend zu suchen, vorsich­tig die Wunden zu behandeln, um sie zu retten und eine Infektion zu verhindern, die durch fehlende Fürsorge entstehen könnte und sie vor Berührung zu schützen, die die Wunden verschlimmern könnte?

Verstehen, um Christi Willen das Volk unserer Zeit zu lieben, dieses Verständnis und die Liebe durch Taten zu beweisen, das ist die Kunst, in hohem Maße Gutes zu tun, wozu Ihr berufen seid! Nicht nur in Eurem engeren Kreise, sondern fast ohne Grenzen, in dem genauen Augenblick, da Eure Erfahrungen zum Vorteil aller gereichen. Es ist auf diesem Gebiet, wo so viele noble Seelen, begeistert und enthusiastisch, bereit sind, eine soziale christliche Ordnung zu erwecken und aus­zubreiten!

Nicht wenig beleidigend für Euch und schädli­cher für die Gesellschaft wäre das ungerechte und unbegründete Vorurteil, welches dem Patriziat und dem Adel unterstellte, daß sie ihre Ehre und die ihres Standes beschmutzen würden, wenn sie Funktionen und Ämter übernehmen, die zu alltäg­lichen Tätigkeiten führen. Sicherlich war zu anderen Zeiten die Ausübung von einfachen Berufen durch Adelige nicht als ehrenvoll angese­hen, mit Ausnahme des Waffendienstes. Aber selbst damals zögerten nicht wenige Edelleute, sobald die Verteidigung des Gemeinwesens ihnen Zeit dazu ließ, nicht davor, sich intellektuellen Tätigkeiten oder dem Handwerk zu widmen. So ist es auch jetzt, unter geänderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht selten, die Namen großer Familien in Verbindung mit Fort­schritten in den Wissenschaften, der Industrie und Landwirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung oder der Regierung zu hören. Diese Männer sind umso aufmerksamere Beobachter der Gegenwart, sichere und mutige Pioniere des Fortschrittes, als sie mit fester Hand sich an die Lehren der Vergan­genheit halten, die Erfahrungen ihrer Vorfahren nützen und sich vor Illusionen und Irrtümern hüten, welche die Ursache von vielen falschen und schädli­chen Unternehmungen vergangener Zeiten waren.

 

Päpstliche Audienz von König Albert I. von Belgien und Königin Elisabeth.

Behüter – die Ihr sein wollt – echter Traditionen, die Eure Familien auszeichnen – Ihr habt die Mission und den Ruhm, zur Rettung des mensch­lichen Zusammenlebens beizutragen. Ihr sollt es bewahren, vor der Unfruchtbarkeit, zu welcher es die melancholischen Bewunderer verdammen würden, die allzusehr am Vergangenen hängen. Aber ebenso auch vor der Katastrophe, in die es gefährliche Abenteurer und verblendete Propheten eines fragwürdigen und trügerischen Fortschrittes führen würden. In Euren Werken wird, über und in Euch, das Bild der Göttlichen Vorsehung erschei­nen, die kraftvoll und doch mit Sanftmut alle Dinge entscheidet und zur Vollendung bringt (Weish. 8, 1). Dies geschieht, wenn sich nicht die Verrücktheit menschlichen Stolzes ihren Absichten entgegenstemmt, die aber trotzdem immer stärker als das Böse, das Unvorhersehbare und die Zufälligkeiten sind. So werdet Ihr auch wertvolle Mitarbeiter der Kirche sein, die – auch inmitten von Unruhe und Konflikten – für den geistigen Fortschritt der Völker wirkt, die Stadt Gottes auf Erden, die Vor­bereitung der Ewigen Stadt.

Für diese fruchtbringende und fromme Aufgabe – Wir sind Uns dessen sicher, daß Ihr für sie mit festem Vorsatz, Eifer und Hingabe arbeiten werdet, die mehr denn je in diesen ernsten Zeiten nötig sind – erbitten Wir die reichsten himmlischen Gnaden. Und Wir erteilen Euch, von ganzem Herzen, Euch und Euren geliebten Familien, nah und fern, den Gesunden und den Kranken, den Gefangenen und Verstreuten, jenen, die großen Schmerzen und Ge­fahren ausgesetzt sind, Unseren väterlichen, Apo­stolischen Segen.[1]

[1] Discorsi e Radiomessaggi di Sua Santità Pio XII, Tipografia Poliglotta Vaticana, 19.1.1944, S. 177-182.

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